Montag, 2. Januar 2012

Kurzgeschichte(n) des Monats

Die Kurzgeschichte des Monats kommt diesmal im Doppelpack. Autorin ist Anette Butzmann.


Zuckerwatte


»Kaufst du mir Zuckerwatte?«
Es war die Stimme eines Mädchens. Hätte er die Augen geschlossen, wäre er auf ein Alter zwischen zwölf und siebzehn gekommen. Doch ihr Gesicht, mit den beginnenden Fältchen um den Mund, erzählte eine andere Geschichte. Ihm fielen ihre schönen Zähne auf. Ebenmäßig, fast weiß. Keine Raucherin, dachte er.
»Hallo«, sagte er, starrte sie an. Er hätte gerne mehr von ihren Augen gesehen, doch die blieben weiterhin vom Schatten der Markise bedeckt. Dann besann er sich, lächelte und sagte: »Na klar, blau oder rosa?«
»Rosa«, sagte der Verkäufer, » sie will immer rosa.« Der Mann hinter dem Stand nahm kurz angebunden das Geld entgegen. Sie griff nach der Zuckerwatte.
»Ich …«, fing er an, doch er verstummte, als sie seine Hand nahm und ihn wegführte.
Sie sprachen danach nicht mehr miteinander. Er ging neben ihr her. Sie aß genussvoll zwei oder drei Häppchen von der Zuckerwatte. Dabei glitt ihre Zunge über die dünnen Zuckerfäden und zog sie vorsichtig in den Mund hinein. Die Nacht war warm, sie hatten das Oktoberfest verlassen. In der U-Bahn-Station konnte er sie besser sehen, auch wenn sie ihm nur den Blick von der Seite gestattete. Sie hatte tatsächlich blaue Augen. Darauf hatte er gehofft. Nun berührte er sie zum ersten Mal. Er strich mit dem Zeigefinger über ihre Armbeuge und beobachtete, wie sich ihre blonden Härchen aufstellten. Seine Lippen, sein Atem strich über die Härchen wie der Wind über ein Gerstenfeld.
Als er versuchte ihr über den Kopf zu streichen, wich sie aus.
»Was ist?« Er war verunsichert.
»Komm«, sie zog ihn in die U-Bahn.
Später stieg er hinter ihr die Haustreppe hoch. Seine Hand berührte sie zwischen den Pobacken und glitt dann den Oberschenkel hinunter. Sie schloss die Tür auf. Er trat ein, blickte den schmalen Gang entlang.
»Du fotografierst?«, fragte er und strich mit dem Finger über gerahmte Fotos. Alle hatten das gleiche Motiv. Es waren Aufnahmen von Bauchnabeln, nackte, gepiercte, schwarze und weiße Bauchnabel.
»Manchmal«, sagte sie und begann ihre Bluse aufzuknöpfen.
»Oh, ich ...«, begann er und wurde rot. Sie lächelte.
»Du brauchst nicht zu bezahlen«, beantwortete sie die ungestellte Frage. Dann drehte sie sich um und ging in einen weiteren Raum. Er vermutete dort das Schlafzimmer. »Ich, ich hole noch etwas zu trinken«, rief er und suchte die Küche.
Als er sie fand, blieb er überrascht an der Tür stehen. Statt einer Gaskochstelle oder eines Elektroherdes war eine tiefe Messingschüssel in die Einbauplatte eingelassen. In der Mitte war ein kleiner Topf. Das Innere der Schüssel hatte ein Gitter, darin klebte Zuckerwatte, rosa Zuckerwatte.





Reflektionen
I.
Im Saal der achtundzwanzig Spiegel geht ein Paar Füße schwer
voran. Sie tragen ihre Last wie Kamele durch die lichtgepeitschte
Schwärze. Ein Fuß stolpert gegen die erste Stufe der
ungleichmäßigen Treppe.
Voran, voran und immer im Kreis, vorbei an denselben Spiegeln,
die achtundzwanzig Stufen hinauf. Schleppender Takt
von zwei Schuhen an Füßen, die gehen und gehen.
Der Takt lockt die Harfe mit den achtundzwanzig Saiten
herbei. Neue Töne, alte Töne, fremd und vertraut. Die Melodie
bleibt schwebend ungewiss, schwingt um die Halbtonlage,
verdichtet sich, löst sich, umkreist die Füße schmeichelnd.
Hastig reiße ich die Türe auf. Mit den Kerzen dicht vor meinen
Augen, in meinen Augen, betrete ich den Saal. Die flackernden
Lichter leuchten grell auf, hartesWiderstrahlen, doch ich kann es nicht sehen.
Basssaitenschlag überschlägt sich beim Hetzen seines Nachhalls,
klingt weiter, klingt leiser. Kommt zur Ruhe in mir,
verschluckt zum stummen Tod,
bereit, eine neue Saite anzuschlagen.

II.

Eine formlose Masse entwächst den Schuhen, aus der Masse
entstehe ich und sehe mich in der Tür stehen. »Mach die
Kerzen aus, bitte«, wimmere ich. Der Schein der Flammen
bricht sich immer und immer wieder in den Spiegeln.
»Ich kann nichts sehen. Wo bist du?« Die Hände suchen im
Feuer nach mir. Ich sehe mich um. Es ist keine weitere Tür im
Saal auszumachen. Eine Hand findet meine Schulter.
Die grässlich grellen Kerzen kommen meinem Gesicht ganz
nah. Ich spüre die Hitze. Ich spüre das Knistern der Flammen.
Die Hand drückt mich aufs Parkett.
»Liebe«, flüstert es ganz leise, und ein Mund verschließt den
meinen. Süßer Atem stößt mir entgegen. Der Bannkreis schlägt
mich. Zum Fliehen ist es nun zu spät.

Ich ertrage die Berührungen. Die Zunge fliegt feucht über
meinen Körper. Die Flammen der Kerzen versengen feine
Härchen, die sich schwarz kräuselnd in der Hitze winden.
Die Hand sucht nach Neuem, ertastet, bis sich die Haut der
Hand entgegenwölbt, bis die Lust siegt und ich keuchend mein
»Ja« entgegenbringe.
Mein Atem hat die Kerzen gelöscht. Es dunkelt wieder, ich bin
erschrocken, erlöst, allein. Ich sehe mich um. In den Spiegeln
glühen nur meine Augen mit den Kerzen dahinter.


Entnommen aus:

Anette Butzmann  Eisblutgeschichten
Erschienen im Seidler Verlag
12,80 EUR / ISBN 978-3-931382-13-1 (Buch) 
19,80 EUR / ISBN 978-3-931382-46-9 (Buch / CD) 



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