Wilhelm Dreischulte überschreitet Grenzen der Zeit. Bei der Lesung im Mannheimer theater oliv (14.07.12., ab 19:00 Uhr) wird er aus dem Leben einer 93jährigen Frau berichten und somit längst vergangene Epochen wieder lebendig machen.
Hier zwei kurze Ausschnitte:
Erdbeben
Als die
Frau sechs Jahre alt war, rüttelte und schüttelte es. Bilder flogen von der
Wand, sogar dasjenige mit den beiden Engeln, Fensterscheiben zerschellten und
Isidor und die Mutter der Frau, sie hieß Ernestine, trieben die Frau und ihre
Schwester nach draußen auf den Innenhof. Es war fantastisch. Alle Nachbarn kamen
zusammen und waren still, die Erde bebte nicht mehr, und schon fingen sie wieder
an zu reden. Erst langsam, dann immer lauter und schneller.
Faszinierend war
das für die Frau genauso, als sie später abends auf den benachbarten Berg lief
und dem Ersten Weltkrieg zuschaute. Sie sah es in der Ferne immer wieder
aufleuchten. Das waren die Bomben und Granaten von den Deutschen und den
Franzosen. Hören konnte sie
nichts.
Alltägliches früher
Einmal im
Monat kam der Seifenmann. Er klingelte die Leute aus dem Haus und verkaufte
Seifenpulver und Seife. Irgendeine Überraschung war immer dabei, einmal ein
Goldarmbändchen, versteckt im Seifenpulver. Die Frau durfte es zunächst tragen.
Doch sobald Isidor sie damit sah, nahm er es ihr wortlos ab.
Wie der Seifenmann, so kam auch der Milchmann. Der Milchmann kam allerdings täglich und klingeln brauchte er auch nicht. Denn die Milchtöpfe standen bereits auf den Treppenstufen vor dem Haus. Samstags lag Geld für ihn unter dem Topf. Wenn die Mutter der Frau mal mehr Milch als gewöhnlich wollte, heftete sie einen Zettel an den Topf.
Für die tägliche Milch war also gesorgt. Die Frau verabscheute Milch. Jeden Morgen musste sie ein Glas trinken, da sie als blutarm galt. Eisern wachte ihre Schwester darüber. Trank sie ihre Milch nicht, schwärzte die Schwester sie bei Isidor an und Isidor schlug sie.
Wie der Seifenmann, so kam auch der Milchmann. Der Milchmann kam allerdings täglich und klingeln brauchte er auch nicht. Denn die Milchtöpfe standen bereits auf den Treppenstufen vor dem Haus. Samstags lag Geld für ihn unter dem Topf. Wenn die Mutter der Frau mal mehr Milch als gewöhnlich wollte, heftete sie einen Zettel an den Topf.
Für die tägliche Milch war also gesorgt. Die Frau verabscheute Milch. Jeden Morgen musste sie ein Glas trinken, da sie als blutarm galt. Eisern wachte ihre Schwester darüber. Trank sie ihre Milch nicht, schwärzte die Schwester sie bei Isidor an und Isidor schlug sie.
Wilhelm Dreischulte: Fremdes Brot
Erinnerungen einer 93jährigen Frau
2009; ISBN 978-3-931382-44-5 / 138
S. / 12,80 EUR
Seidler Verlag
N. ist der 93-jährigen Frau als Pfleger zugeteilt.
»Sie können mich alles fragen«, sagt sie zu ihm. In vielen kurzen Episoden wird
der Leser mitten hinein versetzt in eine Lebenswelt der Erinnerung, die sich
mosaikartig aus der Vergangenheit erschließt und durch ihre scheinbare
Unvollständigkeit Raum lässt für die eigene Fantasie, das Gelesene
fortzudenken.
Biographische Notiz
Wilhelm Dreischulte wurde 1965 in Haselünne/
Emsland geboren. Nach dem Abitur folgten Zivildienst, Jobben und Reisen. Lange
Jahre lebte er in Freiburg und widmete sich neben dem PH-Studium der Malerei und
dem Schreiben. Seit 2001 ist er als Lehrer in Heidelberg, Landau und in Höchst
i. Odw. tätig.
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