Sonntag, 18. Mai 2014

Rezension: Punk Pygmalion von Jutta Pivecka


Das Leben ist eine Reise. Während wir uns durch Zeiten und Orte bewegen, treffen wir andere Menschen, die auf ihrer eigenen Reise sind. Einige werden unsere Begleiter auf einer langen Strecke, andere verlassen uns bald wieder. Manche begegnen uns Jahre später unverhofft wieder - oder sie verschwinden für immer.

Emmi und M. sind Freundinnen. Sie wachsen in einer deutschen Kleinstadt auf, die 80er Jahre prägen sie. Emmi ist Spross einer Familie, die alternative Lebensformen erprobt, M. stammt aus einem konservativen Elternhaus. Zwischen beiden gibt es Überschneidungen, sie haben einen ähnlichen Musikgeschmack, interessieren sich für Kunst und suchen ihren Platz im Leben. Und noch etwas eint sie, trennt sie zugleich aber auch: die Liebe zu Ansgar. Er kommt aus Dänemark und will Bildhauer werden. Ein Rebell in dieser Zeit "trägt Hosen, die dicht über dem Knie fransig abgeschnitten sind, klobige Springerstiefel mit roten Schnürsenkeln, einen breiten Nierengürtel um die Hüfte und ein zerrissenes T-Shirt." Emmi verfällt Ansgar, M. dagegen hält etwas Abstand zu ihm. Die Amour fou findet jedoch ein jähes Ende, als Ansgar auf einer Europareise verschwindet.  

Jahre später ist von dem Rebellentum nicht mehr viel übrig geblieben. Beide Frauen sind erfolgreich in ihren Berufen, Emmi als Anwältin, M. als Kunsthistorikerin. Vergangenes wieder lebendig machen, das ist die Aufgabe von Historikern. In den 2010ern versucht M. auch ihr eigenes Leben zu rekonstruieren. Sie betreibt einen Blog, in dem sie die Geschichte von Emmi und Ansgar nacherzählt. Ein großer Teil der Texte stammt aus Briefen, sie werden im Blog veröffentlicht und mit Einträgen ergänzt. Die Zeitebenen vermischen sich, Emmi trifft den Ex-Punk wieder, die alte Liebe scheint von neuem zu lodern. Ansgar hat inzwischen einen Sohn, Lars, auch er ein angehender Künstler, der seinem Vater in vielem gleicht - nur dass er Jahrzehnte jünger ist. Emmi, die reife Frau, lässt sich auf eine Affäre ein. Und wieder verschwimmen die Grenzen, wieder wird jemand dem Leben abhanden kommen.

Punk Pygmalion ist nicht leicht zu lesen. Der Text verbindet zwei literarische Formen miteinander, den Briefroman, der schon seit Jahrhunderten bekannt ist, und eine relativ neue Abart davon, die noch keinen allgemein gültigen Namen hat, man könnte sie vielleicht als Bloglit bezeichnen - eine Verbindung aus BLOG und LITERATUR. Das Besondere dabei ist, dass der erste Teil, der Briefroman, ein statisches Wesen besitzt - ein Buch, das einmal gedruckt ist, hat seine endgültige Form gefunden. Einträge im Blog hingegen kann man immer wieder umschreiben, ergänzen, kürzen oder von Usern kommentieren lassen. So hat es auch Jutta Pivecka, die Autorin von Punk Pygmalion, gemacht. Seit 2010 experimentiert sie auf ihrem Blog Gleisbauarbeiten mit Fortsetzungsgeschichten, ein Resultat davon ist Punk Pygmalion.

Das Internet lehrt uns, dass die Wirklichkeit nicht starr ist, sondern sich in jeder Sekunde neu erfindet. Auch die Sichtweisen auf unsere Welt sind nicht einheitlich, jeder hat seine eigene Perspektive - und wechselt sie im Laufe seines Lebens mehrfach. Deshalb lässt sich nur schwer sagen, was wahr ist, was erfunden ist und was individuelle Wahrnehmung ist. Punk Pygmalion spielt mit den unterschiedlichen Ebenen der Wahrnehmung, verweigert sich aber endgültigen Antworten. Wer diese Grundhaltung teilt, wird mit einer spannenden, geschickt konstruierten Geschichte belohnt, die gerade weil sie so unwahrscheinlich ist, unwahrscheinlich viel Spaß macht.

Punk Pygmalion, 176 Seiten, Euro 18,00, erschienen in der edition taberna kritika

Text: Elk von Lyck
Hier etwas Bloglit des Autors: Der Höllenmaschinist

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